Ein schmaler
Weg schlängelt sich durch die Felder Tiddisches auf den Wald zu. Das Land ist so still wie
der Himmel. Der dichte Mischwald öffnet sich nur, um den Weg in sich
hineinzulassen.
Von Willy und Frieda Ackermann hatten wir in einer Hamburger
Alternativ-Kneipe gehört. Da ging es zwischen den Freaks stundenlang hin und
her, ob das lch besser bei einem Guru in Indien zu finden sei oder in einer
niederbayrischen Landkommune. Irgendwann erzählte einer, den die anderen den
,,Grünen Heinrich" nannten, von den Ackermanns:
,,Ganz heiße Typen. Irre. Die haben schon vor 50 Jahren den
totalen Durchblick gehabt. Sie sind ausgestiegen aus der ganzen Scheiße und
aufs Land gegangen, da waren unsere Eltern noch gar nicht geboren. Die haben's
geschafft."
Der Grüne Heinrich ist nur einmal bei den Ackermanns gewesen.
Präzise Ortsbeschreibungen sind nicht seine Sache. Als Anhaltspunkt nennt er
uns das Dorf Tiddische zwischen Gifhorn und Wolfsburg. Dort schickte man uns in
den Wald.
Der ist so groß, dass man sich darin verirren kann. Zwei
Stunden suchen wir kreuz und quer, schrecken Kaninchen auf, lassen einen Specht
verstummen.
Wir wollen schon aufgeben, hat der Grüne Heinrich vielleicht
doch gesponnen?
Da entdecken wir an einer Kieferngruppe einen engmaschigen
Kaninchendraht. Der Zaun weist den Weg entlang an Obstbäumen, Gemüsebeeten zu
einem Tor. Ein alter Mann erwartet uns. Weißes Haar fällt ihm auf die
Schultern, sein weißer Bart reicht bis zum Gürtel.
Er trägt ein blau-grau kariertes Flanellhemd und eine braune
Cordhose, die an vielen Stellen gestopft ist. Neben ihm hüpft aufgeregt ein
Hahn herum, reckt den Hals und kräht uns an. Der alte Mann sagt: ,,Der Hahn hat
euch längst gemeldet.' Das ist unser Wachhund." Wir sollten uns das Tor einmal
genau anschauen, sagt der alte Mann. Unbehauene Baumstämme bilden zweimal den
Buchstaben T. Die Pforte darin hat die Form eines A. Der alte Mann sagt: ,,Das heißt
Tat. Das Leben ist die Tat. Leben entsteht nicht durch Reden sondern durch
Tun." Wir schweigen.
Der alte Mann schlurft vor uns durch den Garten. Seine Füße können
die Holzpantinen kaum noch heben. Den Oberkörper weit vornübergebeugt, sieht er
aus wie ein Baum, der sich wieder dem Boden entgegenkrümmt, auf dem er gewachsen
ist. Ein Haus taucht auf. Es ist unbeholfen aus klobigen Stämmen zusammengefügt,
ebenso verwittert wie der alte Mann. Der Giebel ist merkwürdig hoch und spitz
geraten.
Das Durcheinander der Proportionen stört nicht.
Neben der Eingangstür steht eine Hausbank, ein Tisch mit Ringelblümchen
drauf. Wir sollen uns setzen. Der alte Mann schlurft zu einem Brunnen, An einer
Kette lässt er einen Eimer hinunter, kurbelt ihn mit einer Holzwinde wieder
rauf und schüttet Wasser aus dem Eimer in einen Krug. Er stellt den Krug vor
uns auf den Tisch und sagt: ,,Trinkt! Unser Wasser ist unser Heiligtum. Das
schmeckt anders als die Jauche, die bei euch in der Stadt aus den Hähnen kommt."
Bevor wir Fragen stellen können, sagt der alte Mann: ,,Ihr
wollt wissen, wieso und warum wir hier sind." Er nimmt einen Klumpen Erde
in die Hand und lässt ihn durch die Finger rieseln: ,,Ich heiße Ackermann. Der
Name ist ein Auftrag. Ich soll dem Land dienen, den Acker bestellen. Das habe ich
50 Jahre lang nach besten Kräften getan."
Eine Frau kommt aus dem Haus. Die nickt uns freundlich zu,
sagt aber nichts. Die Frau verschwindet im Stall. Willy Ackermanns Erzählungen führen
hinaus aus dem Wald nach Hamburg, dem Hamburg vor dem Ersten Weltkrieg.
Er ist das vierte von fünf Kindern eines Setzers. Sein Vater
verliert bei einem Betriebsunfall alle Finger einer Hand und wird arbeitslos. Für
die Familie Ackermann ist die alte Zeit nicht gut. Früh lernt Willy Ackermann Armut
und Elend kennen. Er muss mit dazuverdienen, trägt Zeitungen aus und putzt
Türklinken bei Leuten, denen es besser geht als den Ackermanns. Dann marschiert
Deutschland. Der Erste Weltkrieg geht verloren, das Kaiserreich liegt in
Trümmern.
Willy bekommt eine Lehrstelle bei einem Hamburger
Malermeister. Lieber aber ist er bei den Studenten der Kunstakademie am
Lerchenfeld. Er ist fasziniert von ihrem ungebundenen Boheme-Leben. Sie können ausdrücken,
was auch er in sich spürt. Jedes Wort saugt er in sich auf, wenn sie sich Nacht
für Nacht die Köpfe heißreden: Weg mit den alten Ordnungen, dem ewigen Muff.
Auf zur totalen Freiheit. Bei den Studenten sind die
russischen Anarchisten gerade groß in Mode, mindestens ebenso wie viele
Generationen später der Vorsitzende Mao und dessen Ideen.
Die Arbeit in der Malerwerkstatt kommt Willy Ackermann immer
sinnloser und stumpfer vor. Er lässt Haare und Bart wachsen, und eines Tages
geht er nach einem Streit mit seinem Meister über die Landstraße davon. In sein
Tagebuch schreibt er: ,,Die Freiheit des Lebens auf der Landstraße ist der
Sklaverei der moderner Zivilisation
vorzuziehen." Das wenige, das er zum Leben braucht,
verdient er sich mit dem Malen von Plakaten. Das hat er sich bei den Studenten abgeguckt.
Für die Bürger ist er ein Vagabund, heute würden sie ihn Gammler nennen.
Willy Ackermann ist ein eigensinniger, umständlicher
Erzähler.
Er hasst die Chronologie. Mit lauter eindringlicher Stimme
wirft er Erlebnisse, Jahreszahlen, Namen von Freunden und politische Ereignisse
durcheinander, gerät hier in eine Sackgasse, verirrt sich dort. Es hat keinen
Sinn, ihn zu unterbrechen. Mit einer schneidenden Handbewegung stoppt er jeden
Versuch.
Frieda Ackermann ist zu uns an den Tisch gekommen. Sie ist
das Gegenteil ihres Lebenspartners, ruhig, ausgeglichen, fast leise. Manchmal
versucht sie, ihn auf Kurs zu bringen, die Knoten seiner Geschichten zu
entwirren, dann wird er böse und sagt: ,,Bitte, Frieda, treib mich nicht."
Sie lächelt dann in sich hinein. Wir wollen wissen, wie alt die beiden sind.' Als
ob das wohl wichtig sei. Ackermann reckt sich und brüllt: ,,Alle Menschen werden
als Originale geboren. Die meisten sterben als Kopien." Dass er keine
Kopie ist, daran lässt er keinen Zweifel. Sie müssen auf die Achtzig zugehen,
das ergibt sich aus ihren Erzählungen.
Frieda Ackermann ist gut behütet in Breslau aufgewachsen. Ihr
Vater, ein Postbeamter, schickt sie auf die Universität. Sie soll Lehrerin werden.
In den Semesterferien arbeitet sie als Werkstudentin in einer5 Fabrik. Nach dem
Examen gibt es keine Stelle für sie. Manchmal wird sie für kurze Zeit als Hauslehrerin
engagiert. Sie sucht ein Ziel, eine Aufgabe, schließt sich Sportvereinen an, debattiert
in Zirkeln, schaut sich in Jugendbewegungen um, von den Deutschnationalen bis zu
den Kommunisten. Sie sagt: ,,Es war damals wie heute. Die Welt sah verrückt
aus. Überall Lügen, Ungerechtigkeit, Elend. "Da sitzen zwei alte Menschen,
deren Leben am Auslaufen ist, und berichten von Konflikten, die auch die
Konflikte der Jugend 1979 sind. Das Unbehagen, das die beiden Alten vor 60
Jahren als junge Leute empfanden, ist das Unbehagen der Jugend .von heute. Damals
wie heute sind sie zornig auf die Väter, die in ihren Augen versagt haben, protestieren
gegen den Mangel an Vitalität, Wärme, Gefühlen und Idealen, wollen eine neue, besser,
gerechtere Welt errichten. Die Ackermanns fühlten sich von der wachsenden Macht
der Maschine bedroht, uns jagt heute der Atomreaktor Angst ein.
Wie wenig hat sich geändert. Die Winzigkeit des einzelnen
wird spürbar, das Gespräch verstummt, Wir schauen in den Garten. Im Oktober
1923 zieht die Jugend aus dem ganzen Deutschen Reich erneut zu einem Treffen
auf den Hohen Meißner im Hessischen Bergland. Willy Ackermann macht sich zu Fuß
auf den Weg, Frieda fährt mit dem Zug. Noch wissen die beiden nichts
voneinander. Als Frieda in Kassel ankommt, so erinnert sie sich noch genau, ist
dort ein Straßenbahnfahrschein schon teurer als die ganze Zugfahrt von Breslau.
Die Inflation galoppiert. Für die auf dem Hohen Meißner ist nach dem $Schrecken
des Krieges das Abendland endgültig untergegangen. Die verschiedensten Vorstellungen
von einer neuen Welt, oft extrem und verworren prallen 'aufeinander. Naturapostel
und Nationalisten, Revolutionäre und Religiöse, sie alle streiten miteinander. Rechte
Verbände, die schon im Gleichschritt marschieren, wollen einen Orden gründen
und das Werk der Deutschritter im Osten fortsetzen (,,Wo deutsches Blut
rauscht, da ist der Helden Heimat"). Sozialisten werben für Siedlungsgemeinschaften
auf dem Land. Anarchisten möchten den ganzen Staat niederreißen, um dann neu
aufzubauen. Einige wollen nach Indien und China ziehen und sich dort in den
Taoismus und Zen-Buddhismus versenken, Andere wieder fordern: ,,Abermals soll
ein Heer aufgestellt werden, aber nicht gegen Frankreich oder England, sondern
gegen die Hölle, die uns bedroht: Raff- und Genussgier, Mammonismus und
gemeines Behagen."
Ein Unwetter treibt die Versammlung auseinander. In der
Dunkelheit ergreift Willy Ackermann eine Hand. Er sagt: ,,Dich halt ich jetzt
fest und lass dich nicht mehr los." Er hat seine Frieda gefunden.
Nur einmal noch trennen sie sich. Zwei Jahre lang kommen bei
dem Mädchen in Breslau Postkarten aus Dörfern und Städten von Willy Ackermann
an, der weiter über die Landstraße walzt.
Im September 1925, an einem Sonntag, als sie mit den Eltern
vom Kirchgang zurückkehrt, steht ihr Willy vor der Tür, von Kopf bis Fuß
Bürgerschreck: Langmähnig und bärtig, in ausgefransten Hosen und kragenlosem
Russenkittel, wie immer barfuß. Der Vater will seine Tochter wegziehen. Willy
springt dazwischen und herrscht ihn an: ,,Verzeihung, ist das Ihre Tochter,
oder sind Sie Viehtreiber?" Während der Vater einen Schutzmann sucht,
verschwinden die beiden. Willy, abgerissen wie er ist, und Frieda im
weißseidenen Sonntagskleid.
Es ist dämmerig geworden im Garten. Frieda Ackermann hat die
Hühner, Ziegen, Kaninchen und die beiden Katzen abgefüttert. Wir gehen ins
Haus. Willy Ackermann zündet eine Petroleumlampe an. Drinnen ist es wie in
einer Höhle. Die rohverputzten Wände sind im Laufe der Jahre dunkel geworden. Ein
Ofen verbreitet Sommer wie Winter Hitze. Die alten Leute frieren leicht. Regale
und Truhen sind mit Büchern und Schriften überladen. überall liegt Werkzeug herum.
Dazwischen stehen Dosen, Flaschen, Gläser und Kannen, gefüllt mit Samen und
Aussaat. Frieda Ackermann sagt: ,,Willy Ackermann hasst die Ordnung. Wenn ich
aufräumen will, wird er fuchsteufelswild." An der Decke sind Tabaksblätter
zum Trocknen aufgehängt. Willy Ackermann baut seinen Tabak selber an. Er dreht
sich eine Zigarette nach der anderen, Die Stummel scheinen zwischen seinen
Händen zu verglimmen. Frieda Ackermann trägt das Abendbrot auf. Das Brot hat er
gebacken, die Butter sie gestampft. Dazu gibt es Knoblauchzehen aus dem Garten.
Der Tee ist eine eigene Mischung aus Pfefferminz, Anis und Rosmarin. Willy
Ackermann gibt nach der Szene in Breslau das Landstraßenleben auf und zieht mit
Frieda nach Hamburg. Er malt wieder Schilder ,,Mittags geschlossen" oder
,,Hier werden Bubiköpfe geschnitten". Das Geschäft floriert, aber er denkt
nicht daran, sich anzupassen.
Andere Außenseiter sammeln sich um die beiden. Gemeinsam
fühlt man sich abgestoßen von den Menschen, die stumpf und ohne Hoffnung sind.
Sie gründen ,,Die Wendepunkt-Gemeinschaft", sie wollen die Menschheit
aufrütteln, die vielen Millionen Arbeitslosen zu neuen Taten bringen. Aus
Lumpen, die andere weggeworfen haben, schneidern sie sich bunte Kleider
zusammen, laufen wie die Hippies herum, lange bevor das Wort eine Bedeutung
hat. Aus Schrott und Sperrmüll, den keiner mehr haben will, bauen sie in einer Schrebergartenkolonie
im Stadtteil Hummelsbüttel ein Haus und streichen es mit grellen Farben an. Sie
formulieren ihren Protest in Flugschriften, die sie selber drucken und abends in
den Kneipen verteilen. Darin steht: ,,Wir kämpfen nicht als Besitzlose gegen die,
die etwas haben. Wir kämpfen gegen die 99,99 Prozent Spießbürger in allen
Lagern. Noch aus dem, was ihr wegwerft, aus Lumpen, Resten, Säcken, schaffen wir
die Kleidung, die ihr anstarrt. Wie wir aus eurem Abfall unsere Häuser,
Webstühle, Möbel, Wagen bauen. Zu alldem gehört fast kein Geld, nur Mut,
Freiheit, Tatkraft, Phantasie. Die warten hoch, der Prolet wartet niedrig, aber
alle warten nur. Warten auf das Neue. Und wurschteln währenddessen im Alten weiter."
Sie ziehen vor die Arbeitsämter, wo lange Menschenschlangen auf die Zuteilung eines
jämmerlichen Stempelgeldes warten. Sie rufen den Arbeitslosen zu: ,,Macht Schluss
damit, ihr fresst euch noch selber auf. Raus aus dem Gefängnis, welches
Großstadt heißt. Fort von den Maschinen, welche den Menschen geistig und körperlich
zum Krüppel machen. Erobert euch mit dem wenigen, dass ihr habt, das Land. Das
bringt euch Speisen. Das schenkt euch Gesundheit." Doch ihnen schlägt nur
Spott und Hohn entgegen, manchmal beziehen sie Prügel.
Ganz bürgerlich ist Willy Ackermann eines Tages mit seiner
Frieda zum Standesamt gegangen. Sie können sich allerdings nicht verkneifen, aus
der Trauungszeremonie eine Posse zu machen. Unterwegs lesen sie einen Bettler
auf. Der soll ihr Trauzeuge sein, Der Standesbeamte, feierlich im Cutaway, ist
entsetzt. Als er umständlich mit seiner Standardrede beginnt, lacht die Braut,
und der Bräutigam unterbricht ihn: ,,Sparen Sie sich das Tamtam. Walten Sie
endlich Ihres Amtes." Nach drei Minuten sind Willy und Frieda Mann und
Frau. Sie lassen einen Beamten zurück, der die Welt nicht mehr begreift.
Nacheinander kommen zwei Kinder zur Welt, Balduin und Hildegard. Willy und
Frieda Ackermann fühlen sich in Hamburg immer mehr als Fremde. Sie finden die
Stadt, in der nichts mehr zu verändern ist, zum Kotzen. Willy Ackermann baut
einen leichten Planwagen, den er selber ziehen kann. An einem schönen Frühlingstag
des Jahres 1930 wird der Wagen beladen mit Musikinstrumenten, Noten, Büchern,
Papier und einer Druckmaschine. Obendrauf sitzen die Kinder. Von den Freunden ziehen
nur wenige mit. Den meisten ist das Leben auf der Landstraße zu unbequem, Als
sie Hamburg verlassen, rufen sie den Zurückbleibenden zu: ,,Wir wollen nicht
versumpfen mit euch Gesindel." Kreuz und quer wandern sie durch
Norddeutschland, geben eine Flugschrift heraus, die sie ,,Menschen auf der
Landstraße" nennen. Die Zeitungen beschäftigen sich mit ihnen. Die
,,Lütjenburger Zeitung" schreibt; „Dass unsere Zeit an einem Wendepunkt steht,
ist eine Tatsache. Die alten Wege und die alten Mittel führen nicht mehr
weiter. Es muss etwas Neues geboren werden, das ist uns allen klar. So wollen
wir auch nicht mit leichtfertigen Gedanken das abtun, was gestern Nachmittag unser
Städtchen in Erstaunen versetzte. Sie sind schon den ganzen Frühling unterwegs,
um von Mensch zu Mensch zu wirken für die Neugeburt des Volkes. Sie tun es
durch Wort und Schrift, durch Musikvorträge in Kirchen, Schlössern, Schulen und
Bauernhäusern und durch ihr lebendiges Beispiel. Selbsthilfe durch mutige,
schaffende Tat, die sie überall hinbringen möchten, diese Leutchen mit ihrem
bunten Wagen."
Und die ,,Eichsfelder Morgenpost" sagt voraus: ,,Nur
wenige wird es allerdings geben, die diesen Menschen auf der Landstraße zu
folgen vermögen, aber es werden nicht die schlechtesten sein." So kommt es
auch. Die Weggefährten bröckeln einer nach dem anderen ab. Als sie im Frühjahr 1931
in die Gifhorner Gegend kommen, ist nur noch ein Freund geblieben. Und auch der
verschwindet bald. Dann sind Willy und Frieda Ackermann mit ihren Kindern
allein. Von einem Bauern in Tiddische kaufen sie die acht Morgen Land, auf denen
wir uns jetzt befinden. Unland nennen die Bauern den mit Kiefern bewachsenen Heidegrund.
Nie wären sie darauf gekommen, einen solchen Boden zu bestellen. Aber einer,
der Ackermann heißt und so lange von der eigenen Scholle geträumt hat, ist zäh.
Er rodet den Boden und macht ihn urbar. Seine Frau und die Kinder kümmern sich
um das Vieh, sammeln Beeren und Pilze. Gemeinsam graben sie den Brunnen und
fügen aus Baumstämmen das Haus zusammen. Aus dem Boden beginnt es zu wachsen und
zu blühen. Aus fünf Schafen werden nach und nach 150, aus einem Bienenschwarm über
70 Völker. Die Dörfler betrachten die Ackermanns misstrauisch. Insgeheim hält
man sie für bolschewistische Agenten, den Mann nennen sie wegen seines langen Bartes
den „Langobarden". Die Familie geht nur aus dem Wald heraus, um Obst,
Gemüse und Pilze und Schafswolle zu verkaufen. Frieda Ackermann hat bei den
Behörden durchgesetzt, dass sie als Lehrerin ihre Kinder selber unterrichten
darf.
Der Lärm der Welt erreicht sie nur noch als leises Echo. Dass
Deutschland „erwacht“ ist, bekommen sie jedoch gleich am Anfang zu spüren. Schon
1933 werden sie nachts von einer grölenden Nazihorde heimgesucht. Die
Braunhemden schlagen Willy Ackermann halbtot. Er soll gestehen, dass er
Kommunist ist. Was soll so einer denn sonst sein? Sie zerstören den Webstuhl, den
er so mühsam gebaut hat, und verbrennen die Bücher. Danach lässt Hitler nichts mehr
von sich hören. Die glorreiche Armee hat für den absonderlichen Waldmenschen keine
Verwendung. Im Krieg werden noch zwei Töchter geboren: Heike und Harte. Wir
fragen, wo die vier Kinder denn geblieben sind? Das macht sie betroffen. Es ist
ihr großer Kummer, dass keines von ihnen bereit war, bei ihnen auf dem Lande zu
bleiben, ihr Werk und ihre Ideen fortzusetzen. Balduin ist nach Kanada ausgewandert,
Hildegard lebt in Südafrika, die anderen beiden Töchter sind in der Nähe verheiratet.
Frieda Ackermann: ,,Unsere Kinder wollten nicht so leben wie wir. Das ist wie Ebbe
und Flut. Die Eltern gehen hierhin, die Kinder dorthin." Sie steht auf,
legt ihrem Mann die Hand auf die Schulter und sagt: ,,Gute Nacht, Willy
Ackermann. Quatsch nicht zu lange. Bist eine Eule und liegst lang im Bett, Ich
bin eine Lerche und muss früh raus."
Wie es um Deutschland bestellt ist, erfahren die Ackermanns -
so hören wir es jetzt von dem alten Mann -, als der Wind nach einem Luftangriff
auf Braunschweig verkohlte Briefe und Dokumente bis in ihren Garten treibt. Dass
ihr Heimatland in unmittelbarer Nähe geteilt wird, merken sie erst viel später.
Sie haben kein Radio, bezieht keine Zeitung, und es gibt auch niemanden, der
ihnen schreibt. Die Hiobsbotschaften von draußen treffen sie nicht. Für sie musste
das alles so kommen. Schon 1927 hatte Willy Ackermann mit einem Flugblatt gewarnt:
,,Es ist eine Schande, dass nach zwanzig Jahren Jugendbewegung die Jugend noch
immer ohne Eigenmacht ist und brotabhängig von der alten Welt, deren Bankrott
sie längst erkannt hat. So abhängig, dass wir uns wieder gegenseitig beschießen
und vergasen werden, sobald die politische Situation auf dem Kriegspunkt angekommen
sein wird."
Inmitten des Chaos bestellen Frieda und Willy Ackermann Jahr
für Jahr ihr eigenes Feld. Ihr Rhythmus ist von den Jahreszeiten und vom Wetter
bestimmt. Ihr Unglück ist der Fuchs, der in den Hühnerstall eingedrungen ist,
der Tod des Mutterschafes, das bei der Geburt eines Lammes eingeht. Ereignisse
sind für sie der strenge Winter 1947, der sie fast umgebracht hätte, die
Hitzewelle 1959, die die halbe Ernte vernichtete. Nur 20 Kilometer von ihnen entfernt,
in Wolfsburg, wächst sich das Volkswagenwerk zum Giganten und Symbol eines neuen
Deutschland aus. Die Ackermanns nehmen am Wirtschaftswunder nicht teil. Willy
Ackermann redet und redet, dreht sich dabei eine Zigarette nach der anderen. Endlich
kann er sich einmal ausschütten. Der alte Mann schrumpft immer mehr zusammen.
Es wird schon wieder hell, als er seine Aufzeichnungen holt. Vom ersten Tag an
hat er Buch darüber geführt, was er dem Boden gegeben und was der ihm dafür
zurückgegeben hat.
Jeder Liter Ziegenmilch ist registriert, jeder Eimer Wasser,
den sie aus dem Brunnen geschöpft haben, der Ertrag eines jeden Meter Bodens. Die
Ereignisse eines jeden Tages hat er festgehalten. Es ist der Rechenschaftsbericht
eines Menschenlebens, eines zähen harten Lebens, ganz auf sich und die eigene
Kraft gestellt. Willy Ackermann hat bewiesen, dass schon wenige Morgen Land
ausreichen, eine Familie satt zu machen. Es schwingt Genugtuung
mit, als er uns vorrechnet, dass er pro Jahr nur 100 Mark für die Grundsteuer
brauche.
Das Petroleum für die Lampen müssten sie kaufen. Mit 200
Litern seien sie in den letzten drei Jahren ausgekommen. In seinen Augen glimmt
Spott, als er uns fragt: ,,Wo hat der Baum seine Geldbörse, wo das Kaninchen?"
Er erwartet keine Antwort. Er weiß, dass sein Leben einen Sinn gehabt hat.
Draußen kräht der Hahn. Frieda Ackermann ist wieder da, sie muss
die Ziegen melken. Später gehen wir über das Land. Jetzt sieht man, wie wenig
die beiden Alten nur noch arbeiten können. Spaten, Axt und Eimer werden ihnen immer
schwerer. Langsam wächst ihre Insel wieder zu. Erbarmungslos erobert sich die
Wildnis Acker und Garten zurück. Frieda Ackermann erzählt uns von ihrem Bein,
das offen ist und nicht mehr heilen will. Als ihr Mann nicht dabei ist, sagt
sie: ,,Ich weiß nicht mehr, wie wir das alles schaffen sollen. Wenn ich zu
Willy sage, ich kann nicht mehr, dann sagt er „Kann-nicht-mehr' liegt auf dem
Friedhof, „Mag-nicht-mehr' daneben." Willy Ackermann bleibt vor seinem
Komposthaufen stehen. Er sagt: ,,Der Kompost ist das
A und O des Lebens. Er verwandelt das scheinbar Sterbende
wieder zu neuem Leben anderer Art. Das ist einmal ein guter Platz für Frieda
und mich. Wir können uns nicht ewig am Schopf herausziehen aus dem Tod."
Willy Ackermann hat sich damit abgefunden, dass nach ihm hier nichts mehr ist.
Was er für viele wollte, war letztlich doch nur für ihn allein.
Vor einigen Jahren noch hat er Hoffnung gehabt, da kamen auf
einmal junge Leute, die sich wie einst er und seine Frau der Stadt und der
Gesellschaft entfremdet hatten und das einfache Leben suchten. Keiner hat es
lange ausgehalten da draußen. Das einfache Leben, von dem sie geträumt hatten, erwies
sich als allzu hart. Der Alte nennt sie abfällig ,,Schlaraffen-Brüder" und
„Speckjäger". Er hat einen Brief aufbewahrt, den ihm sein letzter Besucher,
der Franz aus Kreuzberg, geschrieben hat: ,,Nun bleibe ich erst einmal wieder
in Berlin. Nach Zwangsarbeit ist mir nicht zumute. Ja, ich will was vom Leben
haben, beschaulich in der Sonne liegen.
Hart arbeiten? Wozu? Ich dachte, der jungen Generation soll
es besser gehen. Ich will mich auf dem Land erholen und Frieden finden. Das Leben
soll für mich lustbetontes, schöpferisches Spiel sein." Die beiden Alten
bringen uns noch zum Tor, dem sie die Form des Wortes TAT gegeben haben. Sie
halten sich an den Händen. Willy Ackermann winkt noch lange mit einem weißen
Taschentuch. Dann hat sie der Wald verschluckt.