Artikel_1 - WIR SIND TIDDISCHE

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Geschrieben von Regina Hunold-Gabka mit freundlicher Unterstützung von Harte Ackermann
Willy und Frieda Ackermann - 55 Jahre Selbstversorgung am Weißen Berg in Tiddische
 
Viele Menschen können sich mit den Lebensinhalten und dem Wertesystem der moderneren Industriegesellschaft nicht mehr identifizieren und sehnen sich daher nach einem einfachen, selbst bestimmten Leben auf dem Land. Aber nur wenige besitzen die Tat und Entschlusskraft, um diesen Traum von der Selbstversorgung zu verwirklichen. Zu den Pionieren der deutschen Landbewegung gehörten Frieda und Willy Ackermann. (Bio Garten Dez./Jan. 1985)
„Der Freiheit nach - dem Hunger davon"
 
Die Vagabundenbewegung in der Weimarer Republik
 
Vielen Schmähungen war der so genannte "fünfte Stand" in den letzten beiden Jahrhunderten ausgesetzt. Die "Bruderschaft der Vagabunden" eint das Ziel, all jene zusammenzufassen, die der Kapitalismus auf die Landstraßen geworfen hatte. Im Jahre 1927 sind 70.000 Menschen auf den Straßen Deutschlands unterwegs, sechs Jahre später werden es 450.000 sein. Die Vagabundenbewegung lehnt staatliche und kirchliche Fürsorgeeinrichtungen (Herbergen, Wanderarbeitsstätten) wie jegliche Formen der Armutsverwaltung grundsätzlich ab. Sie setzt auf Selbsthilfe: Von Ihnen selbst aufgebaute Herbergen sollen an ihre Stelle treten, um sich so der Kontrolle der bürgerlichen Gesellschaft zu entziehen (eine Forderung, die sich auch schon bei der Gruppe "Tat" findet. Ihre Kritik schließt die Erwerbslosenunterstützung als Gängelband des Staates mit ein.
 
Die Jugendjahre:
Willy Ackermann wurde als viertes von fünf Kindern in Hamburg geboren. Sein Vater verlor bei einem Betriebsunfall alle Finger einer Hand und wird arbeitslos. Früh lernte Willy Ackermann Armut und Elend kennen. Er musste mit dazuverdienen, trägt Zeitungen aus. Nach dem 1.Weltkrieg liegt alles in Trümmern. Willy absolvierte eine Malerausbildung. Er ist lieber mit den Studenten der Kunstakademie zusammen. Sie können ausdrücken was auch er in sich spürt. Jedes Wort saugt er in sich auf: "Weg mit den alten Ordnungen. Auf zur totalen Freiheit." Die Arbeit in der Malerwerkstatt kommt Willy sinnlos vor. Er lässt sich Haare und Bart wachsen und eines Tages geht er nach einem Streit mit dem Meister über die Landstraße davon. Frieda Ackermann ist gut behütet in Breslau aufgewachsen. Ihr Vater ein Postbeamter. Elend und Armut der damaligen Zeit ließen sie bereits in jungen Jahren über die Ungerechtigkeit dieser Welt grübeln. Sie sucht ein Ziel eine Aufgabe, sie möchte den Menschen helfen, einen „sozialen" Beruf ergreifen. Schließlich wird sie Lehrerin, findet jedoch, wie so viele Kollegen/innen, keine Anstellung. Kurzfristige Anstellungen als Hauslehrerin wechseln mit Fabrikarbeit ab. Anstelle des Tanzvergnügens besucht sie Debattierzirkel und durchstreift auf ihrer Orientierungssuche nahezu das gesamte Spektrum der Jugendbewegung. (Bio Garten Dez./Jan. 1985) Sie sagt: " Es war damals wie heute. Die Welt sah verrückt aus. Überall Lügen, Ungerechtigkeit, Elend." (Bericht "Stern" 1979) Frieda und Willy lernten sich 1923 bei einem Treffen der Jugendbewegung auf dem Hohen Meißner bei Kassel kennen. Während eines Unwetters in der Dunkelheit greift Frieda Ackermann eine Hand. Sie sagt: " Dich halt ich jetzt fest und lass dich nicht mehr los". Nur noch einmal trennten sie sich. Zwei Jahre lang kamen bei Frieda in Breslau Postkarten aus Dörfern und Städten von Willy an, der weiter über die Landstraße reiste. Im Sep.1925 an einem Sonntag, stand Willy dann vor der Haustür von Friedas Eltern in Breslau. Von Kopf bis Fuß Bürgerschreck: Langmähnig und bärtig, in ausgefranzten Hosen und kragenlosen Russenkittel, wie immer barfuß. Der Vater will seine Tochter wegziehen. Willy springt dazwischen und herrscht ihn an: "Verzeihung, ist das ihre Tochter, oder sind sie Viehtreiber?" Während der Vater den Schutzmann sucht, verschwanden die beiden. Er abgerissen wie er ist und sie im weißseidenen Sonntagskleid. ( Bericht "Stern" 1979)

Die „Wendepunkt-Gemeinschaft"  Sie zogen nach Hamburg. Er malte wieder Schilder. Das Geschäft ging gut, aber er dachte nicht daran sich anzupassen. Andere Außenseiter sammelten sich um die Beiden. Sie gründeten "Die Wendepunkt-Gemeinschaft", sie wollten die Menschheit aufrütteln, die vielen Millionen Arbeitslosen zu neuen Taten bringen. Auf selbstgedruckten Flugblättern wird zur Eigenständigkeit und Selbsthilfe aufgerufen. Die Wendepunkt-Gemeinschaft fordert eine grundsätzliche Lebensreform: "Heraus aus der menschlichen, schablonenhaften, entmenschlichten Zivilisation. Erobert euch Grund und Boden, das bringt Nahrung und Gesundheit. Mit einem Volk von Kleinbauern, die intensive Landwirtschaft treiben und sich alle Bedarfsgegenstände, Haus, Kleidung, Geräte selbst herstellen, mit solch einer brüderlichen Gemeinschaft kann keine Ausbeuterklaue etwas anfangen." Doch die Menschen, die in immer längeren Schlangen vor den Arbeitsämtern und Stempelstellen stehen, haben für ihre Anregungen und Vorstellungen von einem besseren Leben nur Hohn und Spott übrig. Sie lebten in einer Hütte vor Hamburg. Sie bauten eine Schrebergartenkolonie im Stadtteil Hummelsbüttel. Die Hütten bauten sie aus Kisten und sonstigen Materialien. Aus Gegenständen, die die Gesellschaft weggeworfen hatten und nichts kosteten. „Auf das Haus schrieben wir damals: " Vorher verlacht und nachher dämlich nachgemacht." Und das gilt auch für heute noch. In der Stadt fingen wir an, aus Zuckersäcken uns unsere erste Kleidung zu bauen. Dann sammelten wir Lumpen, die andere wegwarfen und seidene Damenstrümpfe, schnitten alles in Streifen und verwebten und verstrickten und häkelten uns daraus.
 
Wir haben uns auf eigenem Pachtland unsere Nahrung selbst herangezogen. Und nicht nur Kartoffeln und Gemüse, nein, wir pflanzten sogar unseren eigenen Roggen und ernteten aus einem Korn weit über tausend Körner. Ich male im Jahr nur noch für 500DM, allerhöchstens für 1000DM, sonst verkaufen wir noch Eier. Keine Fabrikeier und nur an solche Leute, die die gesunden Eier zu schätzen wissen. An Geld geben wir so wenig wie möglich aus. Da wir nicht wollen, dass wir mit unseren Ausgaben die alte Welt noch stützen. Mit 2 Schafen konnten wir nach und nach eine Herde von 150 aufziehen. Und aus einem Bienenschwarm wurde ein Lach von 73 durch gezüchteten Bienenvölkern. Wir rodeten im Land und ließen ein Gartenbetrieb entstehen, als kleinste Familie. "(Willy Ackermann, aus dem Brief vom 6.12.1975 an die Öko -Zeitschrift Kompost).
Ein Hahn funktionierte sogar als „Wachhund" und kündigte jeden der sich dem Anwesen näherte mit einem Kikeriki an. Sie entsagten allen Verlockungen der Zivilisation und lebten seitdem konsequent nur von dem, was sie selbst erwirtschafteten oder gegen Tausch erwarben. Sie hatten insgesamt vier Kinder; Balduin, Hildegard, Heike und Harte, die Frieda selbst unterrichtete. 1933 allerdings wurden sie nachts von einer grölenden Nazihorde heimgesucht. Sie schlugen Willy Ackermann halbtot. Sie zerstörten den Webstuhl, den er so mühsam gebaut hatte, und verbrannten die Bücher. Im Krieg wurden ihre zwei Töchter Heike und Harte geboren. 1947 hatte der strenge Winter sie fast umgebracht und 1959 vernichtete die Hitzewelle die halbe Ernte. Misstrauen und Anfeindungen seitens der Dorfbewohner begleiten die Ackermanns noch viel Jahre hinweg. Weil Hermann Hesse mal den Vagabunden Willy nach tagelanger Pilgerreise an der Haustür abwies, waren Willys eigene Türen später immer offen. Genauer: das Tor, das er jedem seiner Besucher mit unnachahmlichem Pathos vorstellte, das Tor zur TAT. (Packpapier Verlag)
Sie wurden im Laufe der Jahre zum Anlaufpunkt vieler Jugendlicher Aussteiger. Einige sind ein paar Tage, andere einige Wochen oder auch Monate dort geblieben und haben mit angefasst. Doch ein geeigneter Mensch, der fähig und willig ist, ihr Werk fortzusetzen, hat sich nicht gefunden. „In allen Begegnungen setzen wir Hoffnungen hinein. Leider vergeblich. Jedes Tier, jede Pflanze, die Erde, das Wasser, die Sonne - alles Lebendige gibt uns ein Beispiel und ist uns Vorbild. Doch der Mensch von heute begreift nicht, was er zu tun hat, nämlich sein Leben, sein ureigenes Leben und Dasein dem Ganzen zu weihen." (Willy Ackermann, aus dem Brief vom 6.12.1975 an die Öko-Zeitschrift Kompost).
1985 starb Willy Ackermann im Alter von 80 Jahren, ein Jahr später folgte ihm Frieda. 55 Jahre lang haben die Ackermanns das Land bebaut, ausschließlich mit Kompost gedüngt, niemals Gift benutzt. Das einst bestellte Land hat die Natur längst zurückerobert und das kleine, bunt verzierte Wohnhaus ist in sich zusammengebrochen. Willys letzter Wunsch, einmal beim Komposthaufen seine letzte Ruhestätte zu finden, blieb unerfüllt. „Als Willy Ackermann starb, da konnte ich an seinem Grab sagen, dass Hitler mit ihm keinen Krieg machen konnte und die heutige Regierung keine Auf-, Nachrüstung oder andere unheilvolle Dinge. Was soll man von Euch sagen, die ihr dem Staat fast die Hälfte Eures Arbeitslohnes hingebt?"(Frieda Ackermann 1985, Bio Garten)

Mein besonderer Dank gilt der Tochter von Willy und Frieda Ackermann, Harte Ackermann. Dank ihrer Unterstützung kam dieser wertvolle und für mich schöne Artikel zustande.
Einen herzlichen Gruß, Regina Hunold-Gabka


Regina Hunold-Gabka





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